Die Plastikflasche fürs Mineralwasser, der Plastikbeutel für den Einkauf – umweltbewusste Menschen verzichten längst darauf. Dem in Chile arbeitenden Meeresbiologen Martin Thiel ist das viel zu wenig.
Thiel lehrt an der Universidad Católica del Norte (UCN) im chilenischen Coquimbo und hat sich gemeinsam mit seinem Kollegen Lars Gutow vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI) mit der wachsenden Plastikschwemme auseinandergesetzt. Alles überflüssige Plastik müsse vermieden werden, sagt Thiel, um die Langzeit-Vermüllung der Meere zu stoppen oder wenigstens zu mindern. Denn freigesetzte kunststoffhaltige Gegenstände zersetzen sich und kehren als „Mikroplastikpartikel” über Strömungen und Nahrungskette zu uns zurück.
Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist unter anderem jener so genannte „Müll-Strudel” im Nordpazifik zwischen Alaska und Hawaii, in dem Zivilisationsmüll durch natürliche Meeresströmungen gewissermaßen gesammelt wird – und sehr langsam zerfällt. Der tausende Kilometer messende Wirbel, so Thiel und Gutow, bleibe nicht allein, längst würden auch ähnliche Strömungswirbel in anderen Meeren zu Müll-Strudeln.
Wie viele Kunststoff-Teilchen da wie lange zirkulieren, ist unklar. Das liege vor allem an den sehr unterschiedlichen Untersuchungsmethoden, betonen die beiden Forscher. Sie haben etliche Veröffentlichungen zum Thema analysiert und festgestellt, dass sich deren Ergebnisse nur schwer miteinander vergleichen lassen. Erstmals haben sie daher Richtlinien erarbeitet, wie Mikroplastikpartikel so erfasst und charakterisiert werden könnten, dass die jeweils regionalen Ergebnisse global zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Es gibt allerdings kein Gremium, das dieses Konzept nun für verbindlich erklären könne: „Es ist nur ein Vorschlag”, erläutert Thiel, aber es sei eine Methodik, die helfen könne, das Problem in Gänze zu erfassen.
Bislang gibt es keinen Ansatz, der rapide wachsenden Plastikflut auf und in den Meeren wirksam Einhalt zu gebieten. Da ist zum einen jener Plastikmüll, den jeder als solchen erkennt: Getränkeflaschen und ‑tüten, Einkaufstaschen und andere Transportbehälter, Einwegfeuerzeuge, Zahnbürsten, CD-Hüllen, Einmalrasierer und viele andere Alltagsutensilien. Ungeheure Mengen davon werden auf See über Bord geworfen, auf unterschiedlichen Wegen ins Meer gespült oder über die Flüsse eingetragen. Zwar untersagt das so genannte MARPOL-Abkommen unter anderem auch das Entsorgen von Plastikabfällen auf See, aber es fehlt fast überall an Kontrollen, an wirksamen Sanktionen und die Abfallentsorgung in den Häfen ist oft ineffektiv und teuer. Also findet man vor allem entlang vielbefahrener Schifffahrtswege deutlich mehr Abfälle als anderswo.
All diese Teile werden von Strömungen davon- und in den beschriebenen Wirbeln zusammengetragen – und zerfallen. „Das kann Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern”, warnt Gutow, „aber es geschieht”. Manche Teile werden spröde durch Lichteinwirkung, andere durch Auflösung enthaltener Weichmacher oder Stabilisatoren; oder sie werden durch Gezeiten, Wellen und Reibung quasi geschreddert. Das ist kein „Abbau” im biologischen Sinne: Da verschiedene Plastikartikel aus unterschiedlichen Chemikalien bestehen, ist der „Cocktail” der Zerfallsreste unüberschaubar: Giftige Substanzen, erbgutverändernde oder krebserregende Stoffe, unfruchtbar machende Verbindungen – alles ist in wechselnden Zusammensetzungen enthalten, wird in unkalkulierbaren Mengen freigesetzt, bildet teilweise neue Verbindungen.
Dieser Plastikmüll ist aber nur das für jeden sichtbare Segment des Problems – das andere kommt bereits in kleinsten Teilen und auf unterschiedlichsten Wegen in die Umwelt und kann ungleich schwerer erkannt (und vermieden) werden. Der Kassenbon aus Thermopapier zerfällt nach dem Wegwerfen und setzt gefährliche Inhaltsstoffe frei. Die Zahncreme, die ins Waschbecken gespuckt, die reinigende Kosmetik, die weggespült wird – sie und viele weitere Gebrauchsartikel enthalten, zum Beispiel als Polier- oder Scheuermittel, künstliche Substanzen im Mikrometerbereich, in Größen, die der andere Plastikmüll erst nach Jahrzehnten des Zerfalls erreicht: Mikroplastikpartikel. Jede Kläranlage, erläutert Thiel, sei da überfordert, „es gibt keine Filter, die das auffangen könnten”. Also landet alles im Meer.
Manche Teilchen sinken auf den Grund und können bei hoher Konzentration dort Leben ersticken; manche treiben jahrelang an oder knapp unter der Meeresoberfläche, werden immer kleiner und gelangen in die Nahrungskette: Kleinlebewesen halten die Kleinstpartikel für Nahrung, schlucken sie, absorbieren einzelne Zersetzungsstoffe, scheiden andere aus, die von anderen Lebewesen aufgenommen werden. Die Stoffe werden weitergegeben, können sich anreichern: chemische Zeitbomben.
Zu viele dieser Mikropartikel sind schon im Meer, betont Gutow – Verzicht und Vermeidung seien die einzigen Waffen, um die weitere Zunahme zu bekämpfen. Gegen die bestehende Last hingegen gibt es kein Mittel. Im Gegenteil: Mit fortschreitendem Zerfall würden die Probleme eher zunehmen, sagt Thiel: „Das ist eine neue Dimension.”
Ein Beitrag über Thiels und Gutows Arbeit erschien in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ am 27. August 2012