An vielen Meeresküsten sind die Folgen des Klimawandels schon heute nicht mehr zu übersehen. Ein aktueller Tagungsband geht der Frage nach, wie die spezielle Mentalität
der Anrainer an hiesigen Küsten mit diesen Folgen umgeht – oder umgehen könnte. Die Rezension erschien u. a. in der Tageszeitung „Neues Deutschland“.
Ein schwimmender Terminal mitten in der Nordsee könnte den Warenaustausch zwischen Containerriesen im Überseeverkehr und kleinen, flexiblen Feederschiffen, die die Kontinentalhäfen ansteuern, gewährleisten. Dann würden ökologisch sensible Flussmündungen nicht mehr als ständig zu vertiefende Großschifffahrtsstraßen gebraucht. Transportable oder auch schwimmende Häuser könnten eine Antwort sein auf sich verändernde Küsten und wandernde Inseln. Menschen könnten so lernen, mit dem Wasser zu leben statt einen ständigen Kampf um Abschottung zu führen. – Dies sind einige Gedankensplitter aus der Abteilung „Visionen“, die anderen Kapitel des vorliegenden Buches allerdings sind handfester.
Kontroversen um angemessene Strategien im Umgang mit dem zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels“ waren Thema eines Kongresses, der Anfang 2010 WissenschaftlerInnen und KüstenbewohnerInnen auf Sylt an einen Tisch brachte und am Beispiel Wattenmeerküste über die „Herausforderung Küstenwandel“ debattieren ließ. Der Tagungsband liegt nun vor, herausgegeben von dem Kulturforscher Ludwig Fischer und dem Leiter der Wattenmeerstation Sylt des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Karsten Reise.
In knapp anderthalb Dutzend Beiträgen liefern WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen eine Vielzahl interessanter Erklärungsmuster unter anderem zur „Küstenmentalität“. Irritierender Begriff? Nein: Es ist eine von jenen Fragen, die viele Menschen sich noch nie gestellt haben und die nur relevant werden, weil andere sie stellen und dazu Antworten anbieten.
Was prägt den Küstenbewohner, was hat seinen Alltag und sein Denken entwickelt, was bestimmt seine Lebensweise, sein Verhältnis zu seiner Umwelt? Anhand der vielfältigen Kulturgeschichte der Küstenregion – als attraktivem Lebensraum, als prosperierender Wirtschaftszone, als Risikoregion zwischen Sturmflut und Küstenschutz – wird erörtert, ob das Meer eigentlich Feind oder Partner ist. Einige Thesen werden kontrovers diskutiert, andere ergänzen sich, suchen Gemeinsamkeiten.
Was verändert sich an den Küsten in welche Richtung? Was bestimmt heute die Grenzen zwischen Meer und Land, was künftig? Welchen natürlichen Schwankungen unterliegt der Meeresspiegel? Verstärken anthropogene Einflüsse – Stichwort „Klimawandel“ – die Tendenz zu höheren Wasserständen oder eher nicht? Und vor allem: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Küstenschutz, den Arbeits- und Lebensalltag, im politischen Miteinander? Es ist eine außergewöhnlich spannende Lektüre; nicht immer einfach im Stil, aber die Aufsätze lassen keinen Zweifel, dass sie die Auseinandersetzung noch am Anfang sehen.
Insofern mag die Zukunft dazu beitragen, zwei Schwächen dieses Buches auszugleichen: Erstens fußt es – siehe oben – auf einer Debatte zwischen WissenschaftlerInnen und KüstenbewohnerInnen; Letztere kommen aber nicht zu Wort. Zweitens steht im Untertitel zwar „soziale Herausforderung“, tatsächlich fehlt eine fundierte ökonomische Analyse: Welche Interessen haben Küstenentwicklung beeinflusst oder bestimmt? Wer zog den Nutzen, wer musste zahlen? Und vor allem: Wer soll oder muss die Kosten tragen für notwendige Veränderungen? Küstenstrukturpolitik von unten – die fehlt noch in der Diskussion.
Fischer, Ludwig, und Reise, Karsten (Hrsg.): „Küstenmentalität und Klimawandel“ – Küstenwandel als soziale und kulturelle Herausforderung; oekom Verlag; München, 2011; 226 Seiten; ISBN 978–3‑86581–221‑6; Preis 34,90 Euro.
„Neues Deutschland“ vom 24. Oktober 2011