Primat der Biodiversität?

Gleich zu Beginn bewies einer Mut: Mit einer Phil­ip­pi­ka gegen zuneh­men­de Nut­zungs­an­sprü­che und unzu­läng­li­che Schutz­kon­zep­te eröff­ne­te der Direk­tor des
Zoos Frankfurt/Main, Man­fred Nie­kisch, das 21. Mee­res­um­welt­sym­po­si­um des Bun­des­am­tes für See­schif­fahrt und Hydro­gra­phie (BSH) in Hamburg.
In rund zwei Dut­zend Vor­trä­gen kon­zen­trier­te sich das schon zur Tra­di­ti­on gewor­de­ne zwei­tä­gi­ge Tref­fen die­ses Mal auf die Umset­zung der Mee­res­stra­te­gie-Rah­men­richt­li­nie (MSRL) der EU sowie auf aktu­el­le Fra­gen der Mee­res­über­wa­chung und des Mee­res­na­tur­schut­zes. Nicht immer ent­hal­ten Refe­ra­te bei die­sem Sym­po­si­um auch kri­ti­sche Töne; die gehar­nisch­te Eröff­nung von Nie­kisch aber sorg­te von vorn­her­ein dafür, der gesam­ten Ver­an­stal­tung eine beacht­li­che Dyna­mik zu geben. Nie­kisch ist Mit­glied des Sach­ver­stän­di­gen­ra­tes für Umwelt­fra­gen (SRU) und erin­ner­te nach­drück­lich dar­an, dass es die­se Exper­ten­grup­pe war, die vor mehr als 30 Jah­ren mit ihrem Son­der­gut­ach­ten „Umwelt­pro­ble­me der Nord­see“ den Start­schuss gab für ers­te Meeresumweltschutz-Diskussionen.

Ent­spre­chend ernüch­ternd klang aller­dings sei­ne Zwi­schen­bi­lanz. Von teil­wei­se irrepa­ra­blen Schä­den war die Rede, von hohem Nut­zungs­druck, von immer noch enor­men Wis­sens­de­fi­zi­ten. Nie­kisch warn­te bei­spiels­wei­se expli­zit vor Ziel­kon­flik­ten zwi­schen dem Drang zum Aus­bau erneu­er­ba­rer Ener­gien etwa in Form von Off­shore-Wind­parks und den not­wen­di­gen Ansprü­chen des Meeresschutzes.

Mit Blick auf die nach­fol­gen­de Debat­te über die MSRL kon­kre­ti­sier­te Nie­kisch die lang­jäh­ri­ge Kri­tik des SRU an der gewohn­ten Defi­ni­ti­on nach­hal­ti­ger Ent­wick­lung und for­der­te eine Neu­be­stim­mung: Statt der drei Säu­len „Öko­no­mie – Öko­lo­gie – Sozia­les“, die seit mehr als 20 Jah­ren den Begriff tra­gen, sol­le der Nach­hal­tig­keit künf­tig ein unver­rück­ba­res Fun­da­ment „Bio­di­ver­si­tät & Kli­ma­schutz“ gege­ben wer­den, auf dem dann die Säu­len „Öko­no­mie – Kul­tur – Sozia­les“ auf­bau­ten. Nur so kön­ne gewähr­leis­tet wer­den, dass nichts mehr die über­le­bens­not­wen­di­ge öko­lo­gi­sche Basis ver­nach­läs­si­gen dür­fe; ein Vor­schlag, der sicher noch Dis­kus­sio­nen nach sich zie­hen wird.

Fritz Holz­warth vom Bun­des­um­welt­mi­nis­te­ri­um stell­te in sei­nem den The­men­block MSRL ein­lei­ten­den Refe­rat einer­seits klar, dass er die­se Richt­li­nie als nütz­li­chen, weil rechts­ver­bind­li­chen Rah­men für das Manage­ment mensch­li­cher Akti­vi­tä­ten mit Wir­kung auf die Mee­res­um­welt anse­he. Zugleich räum­te er aber auch Schwä­chen ein, „Ele­men­te, die nicht allen gefal­len“; das sei Fol­ge des poli­ti­schen Pro­zes­ses, in dem die MSRL ent­stan­den sei. Die MSRL, so Holz­warth, sei eben kei­ne rei­ne Natur­schutz-Richt­li­nie, son­dern eine Auf­ga­be, Schutz und Nut­zung in Ein­klang zu bringen.

Bis 2020, so die Vor­ga­be der im Som­mer 2008 in Kraft getre­te­nen Richt­li­nie, sol­len die euro­päi­schen Mee­re einen so genann­ten „guten Umwelt­zu­stand“ erreicht haben. Der Haken an der Sache ist aller­dings, dass die­ser gute Umwelt­zu­stand auf Grund eines kom­pli­zier­ten admi­nis­tra­ti­ven Ver­fah­rens in die­sem und im nächs­ten Jahr erst defi­niert wird – danach sind bis 2015 Maß­nah­men­pro­gram­me zu ent­wi­ckeln, wie das Ziel erreicht wer­den soll.

Wer auf Grund des­sen Kom­pro­mis­se und Ver­zö­ge­run­gen für unaus­weich­lich hält, konn­te sich durch das Fol­ge­re­fe­rat von Jochen Krau­se vom Bun­des­amt für Natur­schutz (BfN) bestä­tigt füh­len: Kon­kre­te Maß­nah­men wür­den letzt­lich nur ver­langt für aus­ge­wähl­te Umwelt­zie­le, die auf Grund geprüf­ter Indi­ka­to­ren als rele­vant ein­zu­schät­zen sind.
Der Inter­pre­ta­ti­on schei­nen alle Türen offen zu ste­hen, die­sen Ein­druck ver­mit­tel­te auch der Göt­tin­ger Umwelt-Öko­nom Falk Lau­ter­bach, als er ins­be­son­de­re die Vor­ga­be des Arti­kels 8 der MSRL erläu­ter­te: Dem­nach sind bei der Anfangs­be­wer­tung aus­drück­lich auch öko­no­mi­sche Ele­men­te zu berück­sich­ti­gen. Bei der Ana­ly­se der Nut­zun­gen von Mee­res­ge­wäs­sern sei­en wirt­schaft­li­che und gesell­schaft­li­che Aspek­te eben­so rele­vant wie die Kos­ten einer Ver­schlech­te­rung der Meeresumwelt.

Wäh­rend zuvor die an sich viel ver­spre­chend klin­gen­de Idee, Exper­ten über das The­ma „Mee­re der Zukunft – Zukunft der Mee­re“ dis­ku­tie­ren zu las­sen, im eher saft- und kraft­lo­sen Aus­tausch bekann­ter Posi­tio­nen ver­si­ckert war, geriet der zwei­te Tag zur span­nen­den Fort­set­zung der MSRL-Debat­te; wenn­gleich auch hier der Pri­mat der Öko­no­mie oft umwelt­spe­zi­fi­sche Aspek­te erstick­te. So etwa, als Man­fred Zei­ler vom BSH in sei­nen Erläu­te­run­gen zur Kar­tie­rung der Sedi­ment­ver­tei­lung die ent­spre­chen­den Daten­er­he­bun­gen wie­der­holt zur uner­läss­li­chen Basis „für die Inge­nieu­re“ erklär­te – Sedi­ment­stu­di­en für die Bau­pla­nung von Off­shore-Wind­parks, für Kabel­ver­le­gung, für Roh­stoff­ex­plo­ra­ti­on und ande­res mehr.

Sowohl Jus­tus van Beu­se­kom von der Wat­ten­meer­sta­ti­on Sylt des Alfred-Wege­ner-Insti­tuts als auch Gün­ther Nausch vom Insti­tut für Ost­see­for­schung War­ne­mün­de zeig­ten sich über­wie­gend zufrie­den mit den abneh­men­den Ten­den­zen der Nähr­stoff­ein­trä­ge in Nord- bezie­hungs­wei­se Ost­see. Bei­de stell­ten aber fest, dass die Ein­trags­men­gen in Abhän­gig­keit von „tro­cke­nen“ und „nas­sen“ Jah­ren sowie von der Dau­er und Här­te der Win­ter stark schwank­ten. Mat­thi­as Liess vom Helm­holtz-Zen­trum für Umwelt­for­schung in Leip­zig plä­dier­te für die Ent­wick­lung siche­rer Metho­den, die Wir­kung von Schad­stof­fen auf Öko­sys­te­me in Abhän­gig­keit von Kli­ma- und Umwelt­fak­to­ren bes­ser zu beur­tei­len und hier vor allem kumu­la­ti­ve Effek­te qua­li­fi­ziert zu berücksichtigen.

Den The­men­schwer­punkt Mee­res­na­tur­schutz domi­nier­te Hen­ning von Nord­heim, wie Krau­se von der BfN-Außen­stel­le auf der Insel Vilm, mit sei­ner Erfolgs­mel­dung über das welt­weit ers­te Netz­werk von Mee­res­schutz­ge­bie­ten auf der Hohen See. Ins­ge­samt sechs sol­cher Gebie­te mit einer Flä­che von rund 280.000 Qua­drat­ki­lo­me­tern konn­ten im Bereich des Nord­ost­at­lan­tik mitt­ler­wei­le ein­ge­rich­tet wer­den. Aber auch Nord­heims Bilanz war geprägt von Pro­ble­men und Strei­tig­kei­ten, die alle­samt jener einen Wur­zel zuzu­ord­nen waren, die da Nut­zungs­an­spruch heißt: Pri­mat der Öko­no­mie eben.

Berich­te über das 21. Mee­res­um­welt­sym­po­si­um des Bun­des­am­tes für See­schif­fahrt und Hydro­gra­phie in Ham­burg erschie­nen unter ande­rem in der Tages­zei­tung „jun­ge Welt“ vom 16. Juni 2011.