Vor dem Landgericht Bremen hat heute ein Aufsehen erregender Strafprozess begonnen: Die Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen Reeder Niels Stolberg und drei weiteren Angeklagten Bilanzfälschung, Kreditbetrug (in 16 Fällen) und Untreue vor. Letztlich geht es um den steilen Aufstieg und ikarischen Absturz des Stolbergschen Schifffahrtsimperiums, der „Beluga“-Reederei, bis 2011 Weltmarktführer in der Schwergut- und Projektschifffahrt.
Update 12. April 2017: Berichte über diesen Prozess sind erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ (20. 01. 16) sowie fortlaufend auch in der Tageszeitung „junge Welt“ (20. 01. 16 # 11. 08. 16 # 29. 11. 16 # 12. 04. 17). Der Prozess wird Mitte Mai dieses Jahres fortgesetzt und ist derzeit bis Ende September 2017 terminiert.
Hintergrund zur Prozesseröffnung:
Niels Stolberg, 56 Jahre alt, Nautiker und Schifffahrtskaufmann, ist nichts weniger als eine schillernde Person. Ende 1995 gründete er in Bremen seine Reederei und spezialisierte sich auf den Nischenmarkt der oft komplizierten Schwergut- und Projektschifffahrt. Innerhalb von gut zwölf Jahren wurde er Weltmarktführer in diesem Segment. In Bremen ließ sich der Aufsteiger gebührend feiern, sorgte mit vielerlei Ideen und guten Medienkontakten für immer neues Aufsehen. Das war ihm dann auch sicher, als sein Schifffahrtsimperiums Anfang 2011 kollabierte. Mehrere hundert Beschäftigte mussten sich damals neue Jobs suchen, Staatsanwälte ermittelten jahrelang, Insolvenzverwalter hatten ein kaum durchschaubares Firmengeflecht abzuwickeln.
Niels Stolberg war der Erfolgreiche – vor zehn Jahren noch, 2006, hatte die Bremer Wirtschaft ihn zum lokalen „Unternehmer des Jahres“ gekürt. Und Stolberg ließ andere teilhaben an seinem Erfolg, als Mäzen und gemeinnütziger Spender. Er engagierte sich beim lokalen Bundesligisten Werder Bremen, er finanzierte ein Hilfsprojekt für jugendliche Tsunami-Opfer in Thailand, unterstützte lokale Einrichtungen der Hilfe für Menschen mit Behinderungen, gründete und unterhielt ein Galerie- und Künstlerhaus auf der Nordseeinsel Spiekeroog. Hier übrigens war sein Engagement durchaus umstritten, weil er sich nicht mit einer Immobilie begnügte, sondern tendenziell bemüht schien, die Insel aufzukaufen.
Im eigenen Hause galt Niels Stolberg als sehr bestimmend und fordernd. Es gab zynische Scherze, er habe eine Petition für den 26-Stunden-Tag eingereicht – von teilweise guten Gehältern und Prämien war ebenso die Rede wie von hoher Personalfluktuation oder gescheiterten gewerkschaftlichen Versuchen einer Betriebsratsgründung. Und seine am Ende 71 Schiffe zählende Flotte mit knapp 1500 Seeleuten ließ er zu mehr als 90 Prozent unter Billigflagge fahren. Aber – gute Medienkontakte – seinem lokalen Image haben solche Praktiken, zumal sie branchenüblich sind, nie wirklich geschadet.
Dazu trugen seine maritimen Aktivitäten maßgeblich bei. Stolberg tat etwas, was seine Reeder-Kollegen immer nur fordern: Er investierte in seemännische Ausbildung und schuf die „Beluga Sea Academy“, für die er nicht nur auf einigen seiner Schiffe spezielle Lehr- und Wohneinrichtungen unterhielt. Vielmehr kooperierte er mit regionalen Hochschulen und bezuschusste zum Teil deren Modernisierung und Ausbau in Aufsehen erregendem Maße.
Auch maritime Innovationen wie etwa Versuche mit treibstoffsparenden Segelantrieben für Frachtschiffe oder beim Transport von Projektladung quer durch die arktische Nordostpassage katapultierten ihn immer wieder in die Schlagzeilen: Im positiven Sinne – negative gab es kaum, die folgten erst nach dem Aus für „Beluga“. So enthüllte 2013 der Radio-Bremen-Reporter Rainer Kahrs Verstrickungen Stolbergs in dubiose Rüstungs- und Atomgeschäfte: „Bauteile für Atombomben für den libyschen Diktator Gaddafi, Panzerlieferungen trotz Waffenembargos an das Militärregime in Myanmar, Geschütze für Krisen- und Kriegsgebiete in Afrika.“ Viele Fäden habe der Bundesnachrichtendienst (BND) gezogen, dessen Informant Stolberg gewesen sei.
All dies ist nicht Gegenstand des heute beginnenden Prozesses. Allerdings könnten sich hierbei etliche seiner Wohltaten – die ab 2011 sämtlich in den Strudel der „Beluga“-Insolvenz gerieten – nachträglich als Popanz zur Verschleierung zweifelhafter Geschäfte entpuppen: Um sein rasantes Flottenwachstum mit immer neuen Bankkrediten finanzieren zu können, soll Stolberg seine Bücher mit Scheingeschäften und getricksten Vermögenswerten aufgehübscht haben. Als in der großen Schifffahrtskrise die Banken auch nicht mehr mitspielten, ließ er sich 2010 von einer US-„Heuschrecke“, dem Finanzinvestor „Oaktree Capital“, helfen. Der ließ sich dies mit immer weiteren Firmenanteilen „vergüten“ – bis er im März 2011 herausfand, auf Luftnummern-Buchungen in den Bilanzen hereingefallen zu sein. Über Nacht wurde Stolberg entmachtet, buchstäblich aus dem eigenen Hause gejagt, Oaktree erstattete Strafanzeige und zerschlug den „Beluga“-Konzern in kürzester Zeit.
Ausdrücklich weist das Bremer Landgericht zu Prozessbeginn die Bild- und Filmberichterstatter der Medien darauf hin, dass Stolberg „schon lange vor Beginn des … Strafverfahrens aufgrund seiner beruflichen, aber auch außerberuflichen Tätigkeit … zur relativen Person der Zeitgeschichte geworden“ sei. Das zumindest hat in Bremen ohnehin niemand je bezweifelt.